Psychologie des

rituals

Hinduismus, sanātana dharma सनातन धर्म das ewige Gesetz

Der Begriff Hinduismus muss für ein enorme Vielfalt an Gemeinden und regionale Ausprägungen der Verehrung und der Rituale herhalten.

Um nur ein Beispiel zu nennen, die Gruppe der Saktas: Menschen die sich besonders Prakriti, dem weiblichen Schöpfungsaspekt oder der mütterlichen Energie, der Mahakahla oder Mahalakshmi hingezogen fühlen, haben kaum ausgeprägte Rituale. Ihre Doktrin besteht darin, die Ur-Energie des Weiblichen, des Manifestierens der gesamten Schöpfung als Prinzip zu verehren und sich selbst als Sakta in metaphysischer Hinwendung zur Ur-Mutter zu verbinden. Dies hat zu Konsequenz, dass alle Menschen als Geschwister gesehen werden und die Natur, belebte und unbelebte, als Repräsentanz der Urmutter respektiert und gefördert wird.

Das Gute tun wird zum höchsten Dharma und Saktas sind nicht so sehr wie viele andere Gruppen an starre Rituale gebunden.

Es herrscht unter denen, die die Samkhya Philosophie hochhalten oder einen Yogaweg beschreiten, die Meinung vor, dass Rituale und gute Gewohnheiten nötig für die meisten Menschen sind, um nicht den richtigen Weg aus den Augen zu verlieren.

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In diesem Sinne unterstützen Rituale das Dharma.

Je spiritueller ein Mensch wird, je weniger bleibt er in der Abhängigkeit von äußeren festen Formen, und in letzter Folge werden alle Rituale am Ende des Entwicklungsweges zurückgelassen.

Um die Notwendigkeit eines Rituals zu verstehen, ist es zuerst wichtig die Psychologie einer Person und in weiterer Folge deren Metaphysik oder spirituellen Entwicklungsgrad zu verstehen.

Spiritualität bedeutet, sich der eigenen Seele bewusst zu werden, und darüber Bewusstsein zu erlangen; mit der höchsten Ur-Energie, der Mahashakti verbunden zu sein. Alles andere Wissen bezieht sich auf die niedere Ebene der Materie.

Die Upanishaden sprechen bei allem, das mit der Materie zu tun hat von untergeordnetem Wissen, da die Beschäftigung damit nicht in einen höheren Seins- oder Entwicklungszustand erhebt.

Auf dieser niederen Ebene bleiben immer noch die materiellen Wünsche und Gefühle wie Zorn, Lust, Gier, Sorgen, Angst und Stress. Wir tappen in der Dunkelheit der manifestierten Welt und den Projektionen unseres Geistes umher. Geist und Materie sind weit weniger verschieden als die meisten glauben. Spiritualität ist das, was das Bewusstheit aus der Gefangenschaft im Kerker der Materie befreit. Dann erkennen wir uns selbst. Solange dies nicht geschehen ist bleiben wir im Leiden.

„Oftmals wird nur eine Änderung im Leid schon für Glück gehalten
und wir nennen fortan eine andere Dunkelheit Licht.“
MM

Rituale geben Halt und ordnen das Leben. Sie sind eine nach festen Regeln ablaufende, oft feierliche, formelle Handlung. Rituale können mit einem hohem Symbolgehalt aufgeladen sein. Wortformeln und Gesten können integriert sein.

Ein gewisses Maß an Routine ist nach Ayurveda sehr gut für die Gesundheitserhaltung und Gesundwerdung; es kann auch sein, dass ein Mangel an Routinen der Auslöser einer Erkrankung ist.

Ayurveda ist jedoch die Wissenschaft der Balance und jedes Ritual darf und soll auch in Frage gestellt werden. In dogmatischen Machtstrukturen, dabei vor allem in Religionen, wird oft eine exklusive Stellung mit der Ausführung von Ritualen verknüpft und schafft privilegierte Positionen mit besonderer Macht und subsequentem Machtmissbrauch. Diese schädliche Form der Rituale ist in jedem Fall nicht gesundheitsförderlich für die Gesellschaft und somit auch eine mögliche Gefahr für das Gesundheitsempfinden der einzelnen Person.

Die Definition von Gesundheit, aus der Perspektive des klassischen Ayurveda, niedergeschrieben vor 600 v. Chr.:

“Derjenige, dessen Funktionen von doshas (Bioenergien), agnis (Verdauungsfeuern),
dhatus (Geweben) und malas (Ausscheidungsprodukten) im Gleichgewicht sind,
und der in Selbst, Geist und Sinnen fröhlich ist, der ist gesund.”
Sushruta Samhita Sutrasthana, 15

Im Hinduismus gibt es, genau wie in allen anderen Religionen solch starre und missbräuchliche Rituale. Reformversuche wie diese von Krishna und Buddha unternommen wurden, um möglicherweise die atheistische Samkhya-Philosophie zu restaurieren, endeten recht bald durch die Handlungen der nachfolgenden Personen in einer erneuten Personenverehrung.  Im Ayurveda könnte dieses Verhalten als „ungünstige Verwendung des Geistes“ betrachtet werden. 

Die Welt wird aus der Hindu-Perspektive Jagat genannt, was so viel wie „das Bewegliche/das Veränderliche” heißt, da alles, was nicht Brahman ist, der ständigen Veränderungen unterworfen ist. Diese Veränderung ist entweder innerhalb der Materie, des Geistes, von Grund auf universell angelegt oder durch eine äußere Ursache ausgelöst. Die Veränderung ist aber noch nicht völlig manifestiert; ist also noch im Werden. Das Werden wird als Shakti, und auf universeller Ebene Samsara genannt.

Samsara setzt sich aus Form und Dharma zusammen. Es ist die Gesetzmäßigkeit von Dharma.

Form bedingt immer Dualität, eingeschränkte Erfahrung und Limitierung, ist also Arupa, nicht komplett und somit verscheiden von Nirvana.

Nirvana hat als Eigenschaft Purna, was uneingeschränkt komplett bedeutet.

Im Zustand des Nirvana herrscht Allwissenheit und Allmächtigkeit bei völliger Wunschlosigkeit vor.

Die Menschen empfinden sich jedoch in einem „zusammengezogenen“ Zustand, Samkoca, was wörtlich übersetzt Wenigwisser oder Wenig-Tuer bedeutet.

Für die Saktas ist der Gegenpol zu ihrer eigenen Unvollkommenheit Śiva-Śakti.

Śiva drückt den männlichen, Śakti den weiblichen Aspekt dieser volkommenen Doppelentität aus.

Śiva-Śakti ist die Zwillingsbezeichnung ein und derselben Realität, die zugleich in ihrem manifestierten und un-manifestierten Zustand besteht.

Gemeinsam sind sie HamSah, „Ham“ männlich Śiva, „Sah“ weiblich Śakti.

Der schieren Unmöglichkeit, diese Dimension mit dem Geist zu erfassen oder mit Worten zu Beschreiben wird dadurch begegnet, indem man sich etwas Erfassbares vorstellt oder physisch vor sich hinstellt und dieses als Repräsentant der Verehrung nutzt.

Diesen Vorgang nennt man im Sanskrit Pratika Pratima, Objekt der stellvertretenden Verehrung.

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Dies kann ein externes oder mentales Objekt sein. Die Grobheit oder Subtilität dieser Objektgestalltung hängt ausschließlich vom Zustand des Individuums selbst ab. Beginnend mit dreidimensionalen realen Objekten, Statuen, Bildern oder Yantras, der diagrammatischen Darstellung von Mantras.

Es kann diese Verehrung durch die Rezitation von Mantras sowohl offen als auch innerlich, und durch Überbringung von Gaben wie Blumen, real oder geistig imaginiert, geschehen.

Mudras, besondere Handhaltungen, können ebenso dafür verwendet werden wie Asanas und Astanga Yoga.

Bei Oberflächlicher Betrachtung von außen kann jede dieser Übung als eigenständige Religion oder Götzenverehrung betrachtet werden. Es ist nicht überraschend, das die christlichen Eroberer mit der recht eindimensionalen Unterwerfung unter die Gnade des Allmächtigen diese individualisierte Form des Enwicklungsweges nicht verstandenen haben und herabwürdigten.

Bei spirituell oder philosophisch wenig gebildeten Menschen ist im Laufe der Zeit ein unreflektiertes Nachfolgen, nach den Gestaltungen anderer entstanden. Eine neue Religion entsteht durch die Verbindung von Priestern, die den willen Gottes verstehen mit einer Gefolgschaft, die die vermittelnde Rolle der Priesters anerkennt und deren Objektgestaltung, Rituale und Interpretationen an Stelle ihrer eigenen Entwicklungswege stellen.

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देवान्भावयतानेन ते देवा भावयन्तु व परस्परं भावयन्त: श्रेय: परमवाप्स्यथ

devān bhāvayatānena te devā bhāvayantu vaḥ parasparaṁ bhāvayantaḥ śhreyaḥ param avāpsyatha

The purpose behind creating and worshiping a divine entity, is so that that divine entity reflects that action back on our own self, thereby raising us to a higher level of living, ascribed with that deity.

„Der Grund, warum wir göttliche Wesen kreieren und sie Verehren ist der, dass jene göttlichen Eigenschaften,
die wir ihnen beimessen auf uns zurückfallen und wir auf ein höheres Niveau aufsteigen können,
welches mit diesem Wesen verbunden wird.“
Gita 3/11-15

Abschließend sei aus der Mahakala samhita von Sadhaka zitiert, der einen hohen Zustand beschreibt, in dem das Rituelle zurückgelassen wurde:

“I torture not my body by austerity.”
"Ich quäle nicht meinen Körper mit Entbehrungen".
Sadhaka, Mahakala Samhita

Der Körper ist eins mit der heiligen Essenz, warum sie quälen? Ich habe erkannt, dass ich nie von ihr getrennt war und diese Praxis ist nur für jene nützlich die dies nicht realisieren. Im Westen wird Missverständlich angenommen, dass Yogis die diese Praxis üben, damit eine Form der Opferung durch Selbstkasteiung ausführen, wie wir das aus den Selbst-Geißelungen im Christentum und Islam kennen. Vielmehr üben sich diese Yogis in aufrichtiger Vergegenwärtigung, dass sie noch nicht völlig in der Einheit aufgegangen sind. Sie Versuchen über die Überwindung des Körpers die Bindung an die materielle Welt zu lösen.

“I make no pilgrimages”.
"Ich pilgere nicht zu heiligen Stätten".
Sadhaka

Denn alle heiligen Plätze sind in der Einheit mit der mütterlichen Kraft in mir selbst, warum sollte der, der das versteht im Außen an leeren Plätzen suchen?

“I waste not my time in reading the Vedas”.
"Ich verschwende keine Zeit mit dem Studium der alten Schriften".
Sadhaka

Ich nehme nicht an, dass dies bedeutet das man als Suchender als erstes damit beginnen sollte die Veden Nicht zu lesen. Sadhaka konnte sie wahrscheinlich auswendig, aber irgendwann hat es sich ausgelesen und nur noch die stille Erkenntnis führt in die tiefsten Regionen des Seins.

“I take refuge at thy Sacred Feet".
”Stattdessen suche ich Zuflucht bei den Füssen der Ur-Mutter".
Sadhaka

Das ist gleichzeitig die höchste Sādhanā; Form des Opfers und der Hingabe und gleichzeitig die größte Belohnung.